Inhalt:
I. Wieso lernt mein Kind nicht rechnen?
Was
ist in den ersten Schuljahren passiert?
Hat das Kind denn wirklich nichts gelernt?
II. Treten Sie Vorurteilen entgegen!
Rechenschwache
Kinder sind nicht dumm,
sie sind auch nicht faul,
sie sind nur verzweifelt und enttäuscht !
III.
Ihr Kind braucht Ihr Verständnis
IV.
Worin sich Rechenschwäche zeigen kann
Mathematik
ist neben Deutsch das wichtigste Fach. Jedes Kind muss rechnen können, um in
der Schule weiterzukommen und eine angemessene berufliche Laufbahn einschlagen
zu können. Denn die Beherrschung der Grundrechenarten gehört zum
unverzichtbaren Fertigkeitsbestand eines jeden modernen Menschen - auch und erst
recht im Zeitalter des Taschenrechners. Wer nicht rechnen kann, für den ist
auch ein Taschenrechner völlig nutzlos: Er weiß ja nicht einmal, welche
Rechenaufgabe er in das kleine Gerät eingeben muss, damit es ausrechnet, was er
wissen will.
Anders
als im Deutschunterricht, wo manch einer seine Rechtschreibschwäche z.B. durch
kreative, lebhafte Beteiligung am Unterricht kompensieren kann, lässt sich beim
Rechnen nichts "wettmachen". Ein Kind kann rechnen oder kann eben
nicht rechnen.
Mathematik
ist ein streng systematisch aufgebautes Fach. Wer am Anfang nicht mitgekommen
ist, für den ist es unmöglich, später bei "passender Gelegenheit"
wieder einzusteigen. Wie soll z.B. ein Kind, das die Addition nur unzureichend
verstanden hat, die Multiplikation begreifen, die die Vereinfachung aufeinander
folgender Additionen gleicher Summanden ist? Und wie die Subtraktion, die die
Umkehrung der Addition ist, und dann noch die Division, die die Umkehrung der
Multiplikation ist? In der Mathematik kann man sich Wissenslücken nicht
leisten.
I.
Wieso lernt mein Kind nicht rechnen?
Wenn
Sie, liebe Eltern, diese verzweifelte Frage stellen, haben Sie und Ihr Kind
vermutlich schon einen längeren Leidensweg hinter sich. Hat Ihr Sohn vielleicht
schon im Vorschulalter regelmäßig "abgeschaltet", sobald es um
Zahlen ging? Hat Ihre Tochter anfangs gerne gerechnet - und erst die Lust daran
verloren, als sich zunehmend weniger Erfolg einstellte?
"Es
muss mehr geübt werden!" -
war
doch sicher auch Ihre Schlussfolgerung. Ab sofort wird daher nachmittags regelmäßig
gerechnet. Wobei Sie sich natürlich sehr um Geduld bemühen, denn dass die Zeit
zum Spielen verkürzt wird, ist ja schon hart genug. Sie rechnen vor, Ihr Kind
rechnet nach. Manchmal klappt das auch, dann wieder nicht.
"Das
Kind braucht Nachhilfe!" -
haben
Sie sich vielleicht gesagt. Also übt Ihr Sohn zusätzlich mit einem
Nachhilfelehrer. Aber was, wenn nach einer Woche oder spätestens nach der nächsten
Mathe-Arbeit von all dem, was Ihr Kind eben noch "konnte", nichts mehr
zu merken ist?
"Hat
vielleicht die Schule versagt?" -
werden
Sie sich gefragt haben. Die Lehrerin, der Lehrer wehren ab. Ihnen kann man
keinen Vorwurf machen, sie haben getan, was sie konnten. Und das stimmt auch: In
der 1. Klasse der Grundschule werden schließlich 20 - 30 Kinder
zusammengewürfelt, die im Alter noch ziemlich gleich sein mögen, in ihrem
Zahlenverständnis hingegen total verschieden. Da gibt es Kinder, die sich im
Zahlenraum bis 20 bereits zurechtfinden, und andere, die noch nicht bis 3 zählen
können. Niemand, und sei er noch so engagiert, ist in der Lage, ihnen allen
gleichzeitig und gleichermaßen gerecht zu werden.
Später
schlägt der Lehrer vielleicht Förderunterricht vor. Jetzt gibt es Förderunterricht
und Nachhilfeunterricht und zusätzlich wird zu Hause geübt. Klar, dass das
eine Quälerei ist, aber was sein muss, muss sein. Ungeduld schleicht sich ein
und nicht selten macht sich Verzweiflung breit - auf beiden Seiten:
Aus
dem Schulanfänger ist ein echtes Problemkind geworden. Es ist
"unkonzentriert, motivationslos und leistungsgehemmt" - so heißt es
jetzt, vielleicht auch noch "verhaltensauffällig und aggressiv"; oder
aber ein so genanntes "unauffälliges" Kind, das verängstigt alles
Lernen von vornherein abwehrt: "Das kann ich nicht!"
Was ist in den ersten Schuljahren wirklich passiert?
Hat das Kind denn wirklich nichts gelernt?
Doch,
aber kein Rechnen. Vielleicht war Ihr kleiner Junge in seinem Zahlenverständnis
noch nicht so weit, als in der Schule mit dem Rechnen begonnen wurde; vielleicht
hat Ihre Tochter eine grundlegende Rechenoperation von Anfang an völlig
missverstanden und niemand hat es bemerkt. Solche Kinder gehen oft im
Klassenverband unter. Und weil ihre Schwierigkeiten unbemerkt bleiben, wird ihr
quantitatives Denken nicht gefördert, sondern überfordert. Die Konsequenz: Sie
verstehen nichts, der Unterricht geht völlig an ihnen vorbei und sie machen in
ihrem Verständnis von Mengen, Zahlen und Rechenoperationen nicht die geringsten
Fortschritte.
Rechenschwache
Kinder, die ja alles richtig machen wollen, kämpfen zunächst sehr darum, den
Anschluss nicht zu verlieren, obwohl sie nicht mitkommen. So mancher Junge lernt
möglichst viel von dem, was er nicht versteht, auswendig, damit er im
Zweifelsfall die richtige Antwort parat hat und sich nicht blamiert. Weil er auf
diese Weise häufig auch zu richtigen Ergebnissen kommt, merkt niemand, dass er
in Wirklichkeit gar nicht weiß, was er da tut. Seine Rechenschwäche bleibt
unbemerkt.
Er
lernt z.B., dass 2 + 2 = 4 ist. 2 • 2 ist auch 4.
Dann
ist das "+" wohl so etwas Ähnliches wie das " • "
- oder?
Warum ist dann 3 + 3 = 6, aber 3 • 3 =
9?
Antwort
des Vaters, der fleißig mit seinem Sohn übt: "Weil man hier malnehmen
muss." Diese Antwort hilft dem rechenschwachen Jungen überhaupt nicht
weiter.
Hand
aufs Herz: Könnten Sie dem Jungen mehr als das richtige Ergebnis sagen? Könnten
Sie ihm dazu noch eine stichhaltige Begründung liefern, sodass er den
Zusammenhang von Addition und Multiplikation versteht und so den Unterschied
begreifen lernt? Wie lange müssen Sie überlegen?
Mit
der Zeit wird der Abstand zwischen dem, was das Kind selber begriffen hat, und
dem, was im Unterricht inzwischen dran ist, größer. Schon sind vierstellige
Zahlen an der Reihe. Wie schreibt man Tausend? Mit einer 1 und drei Nullen.
Warum? Die Mutter sagt: "Weil man das so macht". Dann soll das Kind
die Zahl 1431 schreiben. Es will ja nichts verkehrt machen und schreibt: 1 000 431.
Das enttäuschte, entnervte Gesicht der Mutter signalisiert: schon wieder
daneben.
Fast
jedes rechenschwache Kind gibt dann irgendwann auf. Es kapituliert vor der ihm
unerklärlichen Tatsache, dass all seine Bemühungen letztlich fruchtlos
bleiben. Wenn dann noch Vorwürfe dazukommen, ist von seinem natürlichen
Selbstwertgefühl meist nicht mehr viel übrig. Die lieben Mitschüler, die
manchmal recht gnadenlos sein können, tun oft ein Übriges dazu, dass einem
rechenschwachen Kind das Fach, in dem es so viel persönliches Versagen erlebt
hat, schließlich zutiefst zuwider ist.
Rechenschwache
Kinder sind eine Minderheit, der die Institution Schule nicht gerecht werden
kann. Sie erhalten dort nicht die spezielle Förderung, die sie bräuchten, weil
sich die Schule hinsichtlich Stoff und Lerntempo an der Mehrheit der Schüler
orientieren muss.
Häufig
genug werden rechenschwache Kinder wegen ihres Leistungsrückstandes im Fach
Mathematik insgesamt für dumm erklärt. Und diese Abqualifizierung kann sich
dann im Sinne einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" zu einer
generellen Lernbehinderung auswachsen: Die betroffenen Kinder werden zunehmend
durch Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste bestimmt, sehen auch in
anderen Fächern nur mehr Anforderungen, die sie nicht erfüllen können, und
fallen allgemein in der Schule zurück, d.h. auch in den Fächern, in denen sie
bisher durchschnittliche oder gar bessere Leistungen erbracht haben.
So
kann eine nicht erkannte und daher auch nicht therapierte Rechenschwäche sehr
weitreichende Konsequenzen haben.
II.
Treten Sie Vorurteilen entgegen!
Rechenschwache
Kinder, deren Selbstwertgefühl schon genug darunter zu leiden hat, dass sie in
einem so wichtigen Fach versagen, werden oft zusätzlich mit dem Vorurteil
konfrontiert, sie seien dumm, faul oder unkonzentriert, also im Grunde selbst
Schuld daran, dass sie nicht rechnen können.
Eine
verhängnisvolle Schuldzuweisung, die nur durch Unkenntnis oder Hilflosigkeit
gegenüber dem Phänomen Dyskalkulie erklärlich wird. Verhängnisvoll in
zweierlei Hinsicht: Zum einen wird dem Kind damit ein äußerst
ungerechtfertigter Vorwurf gemacht. Es kann ja nun wirklich nichts dafür, dass
ihm nicht die spezielle Förderung seines quantitativen Denkens zuteil geworden
ist, die es gebraucht hätte. Und zum andern wird ihm damit der Eindruck
vermittelt, es sei bereits endgültig abgeschrieben.
Rechenschwache
Kinder sind nicht dumm!
Die
Ergebnisse, die ein rechenschwaches Kind errechnet, mögen einem flüchtigen
Betrachter so erscheinen, als seien sie aus schierer Willkür und purem Zufall
entstanden. In der Regel ist das nicht so; meist haben die Fehler Methode.
1.
Frank z.B. errechnet Folgendes:
22
+ 5 = 9
Er
hat sich gemerkt, dass es bei der Addition zweistelliger Zahlen vorteilhaft ist,
die Zahlen in ihre Stellen zu zerlegen, die Stellen einzeln zu addieren und dann
die Zahl wieder zusammenzusetzen. Das macht Frank aber so:
22
+ 5 = 2 + 2 + 5 = 9
Ihm
fällt auch gar nicht auf, dass das Ergebnis seiner Addition kleiner ist als der
erste Summand, zu dem er ja noch die Zahl 5 hinzuzählen soll. Das
Stellenwertsystem muss diesem Jungen ein Buch mit sieben Siegeln sein!
2.
Die kleine Sandra und ihre Rechenstrategie sind ein weiteres Beispiel. Sie
verrechnet sich hartnäckig um 1. Die Aufgabe 4 + 3 bewältigt sie z.B.
folgendermaßen:
Sie
fängt mit der linken Hand an und zählt die Finger ab: Erster, zweiter,
dritter, vierter Finger. Die "4" wäre geschafft. Anschließend kommt
die "3" dran, nach derselben Methode, beginnend mit dem vierten
Finger, der jetzt der erste ist. Der fünfte Finger ist jetzt der zweite und das
gar nicht zufällige Ergebnis lautet "6".
Sandra,
die noch keinen Mengen- und Zahlenbegriff hat, gibt sich große Mühe, trotzdem
richtig zu "rechnen": Mithilfe der Finger und der auswendig gelernten
Zahlenreihe passt sie darauf auf, dass ja nichts verloren geht. Sie hat also gar
nicht 3 + 4 gerechnet, sondern ihre Finger abgezählt bis zum rechten
Daumen, von dem sie weiß, dass der "6" heißt.
3.
Ein drittes Beispiel ist Lothar mit seiner schriftlichen Subtraktion:
72 -
15 = 63
Er
hat sich aus dem Unterricht gemerkt, dass immer die kleinere Zahl von der größeren
abgezogen wird. Diese Regel wendet er jetzt bei der schriftlichen Subtraktion
an. Er schreibt die Zahlen richtig untereinander:
72
- 15
und beginnt richtig mit der Einerstelle. Dort stutzt er: 2 - 5 passt nicht zu
der Regel, nach der die kleinere Zahl von der größeren abgezogen werden muss.
Damit die Aufgabe passt, stellt er die Ziffern um und rechnet 5 - 2.
Für
Lothar war diese Manipulation nötig, damit er die Aufgabe 72 - 15 lösen
konnte. Sein gar nicht zufälliges Ergebnis lautet: 63.
Nicht
durch Unkonzentriertheit, Gedankenlosigkeit oder Flüchtigkeit entstehen solche
Fehler: Vielmehr hat das rechenschwache Kind sehr viel Konzentration und
Gedankenarbeit aufgebracht, um die Aufgabe, die es lösen sollte, auch zu lösen.
Es hat sich eine persönliche Rechenstrategie - wir nennen das einen subjektiven
Algorithmus - zurechtgelegt, um mit der Aufgabe fertig zu werden.
...
sie sind auch nicht faul!
Einem
Kind, dessen Mengen- und Zahlenbegriff nicht entwickelt ist, nützt die Devise
"üben, üben und nochmals üben" überhaupt nichts. Solange ihm der
Begriff der Zahl fehlt, kann es schlechterdings nicht begreifen, was der Sinn
von Rechenoperationen ist. Solange bringt auch das Üben keinen Fortschritt in
der geistigen Beherrschung von Quantitäten, sondern nur sinn- und zwecklose Quälerei
für Eltern und Kinder. Denn es wird ja nur das wiederholt, woran das Kind
bisher gescheitert ist.
Bestenfalls
wird dabei das trainiert, was das rechenschwache Kind in vielen Fällen schon überdurchschnittlich
gut kann: Das Memorieren sinnlos erscheinender Zeichen und Laute und deren willkürlich
erscheinender Kombinationen. Denn was für Erwachsene eine ganz normale,
einfache Rechenaufgabe ist, z.B. die Addition
7 + 6 = 13,
ist
für ein Kind, das Zahlen nicht "versteht", so verwirrend und
undurchschaubar wie die "Rechnung"
§ + & = %*.
Stellen
Sie sich einmal die geistige Anstrengung vor, die es kostet, sich Dinge zu
merken, von denen man nicht weiß, was sie überhaupt bedeuten!
Manche
Kinder lernen fleißig Ergebnisse auswendig. Katrin z.B. hat sich gemerkt, dass
bei einer bestimmten Sachaufgabe, bei der sie zunächst "34" errechnet
hatte, auf jeden Fall die Zahl "38" herauskommen muss. Noch eine Woche
später ist sie sich da ganz sicher. Auf die Nachfrage, wie sie denn darauf
gekommen sei, antwortet sie lapidar: "Es stand so an der Tafel." Den Lösungsweg
kann Katrin nicht mehr angeben, gibt sich aber nun große Mühe zu überlegen,
wie man die Aufgabe "so rechnen kann, dass 38 rauskommt". Eine ganze
Woche lang hat sich Katrin eine unbegriffene, für sie willkürliche Zahl
gemerkt. In dieser Hinsicht sind manche rechenschwachen Kinder geradezu
erschreckend fleißig!
Natürlich
sind bei einem rechenschwachen Kind häufig auch Symptome zu beobachten, die den
Verdacht auf Faulheit zu bestätigen scheinen: Es sitzt deprimiert herum, lässt
mutlos den Kopf hängen, drückt sich um die Hausaufgaben, so gut es kann, sitzt
dann ewig an den Aufgaben, "ohne sich zu konzentrieren" und scheint
insgesamt träge und faul zu sein.
In
Wirklichkeit konzentriert es sich vielleicht doch, nur eben auf etwas anderes.
Viele rechenschwache Kinder sind extrem misserfolgsorientiert: Sie haben solche
Angst, schon wieder zu versagen, dass sie ihren Kopf für nichts anderes mehr
frei haben. Diese "Unkonzentriertheit" kann Folge einer Dyskalkulie
sein.
... sie sind nur verzweifelt und enttäuscht.
Enttäuscht,
weil all ihre Bemühungen umsonst waren, und verzweifelt, weil sie nicht wissen,
was sie daran ändern können. Dabei befinden sie sich nicht nur subjektiv in
einem Dilemma, sondern auch objektiv: Was nützt der gute Wille, richtige
Ergebnisse zu liefern und falsche zu vermeiden, wenn gleichzeitig gar nicht klar
ist, wie man "richtig" und "falsch" unterscheiden kann! Das
ständig wiederkehrende Erlebnis des eigenen Unvermögens führt auf die Dauer
zur Entmutigung. Die Kinder resignieren und wollen mit "all dem" von
vornherein nichts mehr zu tun haben: "Das kann ich doch nicht!"
Besorgte
Eltern werden hier wiederum selbstkritisch und meinen, sie hätten ihre Kinder
nur nicht genug gefördert. Wie den meisten Erwachsenen ist ihnen Rechnen eine
Selbstverständlichkeit. Sie brauchen sich über den Zusammenhang von Mengen,
Zahlen, Zahlenaufbau und Rechenoperationen keine Gedanken mehr zu machen, weil
sie den Umgang mit Zahlen beherrschen. Aber genau das macht sie auch blind gegenüber
den speziellen Lernproblemen ihres Kindes: Sie begreifen ihrerseits nicht, was
mit ihrem Kind eigentlich los ist, warum es nicht rechnet wie sie.
Verschärfend
kommt hinzu, dass die häuslichen Übungen für alle Beteiligten Überstunden
sind. Nicht nur der Vater hat bereits einen ganzen Arbeitstag hinter sich,
ebenso das Kind, das nach der Schule und den anschließenden Hausaufgaben
eigentlich dringend ein paar Stunden freie Zeit bräuchte. Da schleicht sich
dann leicht Ungeduld ein und nicht selten endet der gut gemeinte
Nachhilfeunterricht mit Wutausbrüchen und Tränen.
Für
die Selbsteinschätzung des rechenschwachen Kindes hat dies katastrophale
Folgen. Nachdem es bereits in der Schule "gelernt" hat, dass es fürs
Rechnen einfach zu dumm ist, bekommt es anschließend durch die häusliche, ihm
ganz persönlich gewidmete Rechenstunde die endgültige Bestätigung seiner
Minderwertigkeitsgefühle.
Was
als Hilfe für das rechenschwache Kind gemeint war, kann so eine Verschärfung
der Problematik bewirken.
III.
Ihr Kind braucht Ihr Verständnis
Machen
Sie einmal folgendes Gedankenexperiment:
Stellen
Sie sich vor, Sie hätten einen Beruf, der Ihnen gar nicht liegt, und müssten
fast täglich Arbeiten verrichten, mit denen Sie sich nicht auskennen und bei
denen Sie bestenfalls zufällig mal etwas richtig machen. Man tuschelt bereits
über Sie und Ihr Unvermögen, man beschuldigt Sie, keine Einsatzbereitschaft zu
zeigen, man macht sich über Sie lustig, man reagiert genervt, sobald Sie
auftauchen und womöglich etwas wissen wollen. Schließlich werden Sie offen der
Unfähigkeit bezichtigt.
Völlig
klar: Sie fänden die Situation nicht zum Aushalten, würden so bald wie möglich
kündigen und sich um eine andere Arbeit bemühen.
In
einer vergleichbaren Situation befindet sich ein rechenschwaches Kind in der
Schule. Es kann den Anforderungen nicht genügen, es wird von anderen
beschuldigt oder gehänselt, seine Situation ist nicht zum Aushalten, aber es
kann nicht kündigen. Hier ist Ihr Kind auf Ihr Mitgefühl angewiesen, darauf
dass Sie es verstehen, wenn es von seinem Ärger berichtet, über Mitschüler
oder Lehrer klagt oder empört ist über ungerechte Behandlung.
Bedenken
Sie: Kein rechenschwaches Kind ist schuld an seiner Situation, es leidet selbst
am meisten darunter, dass es mathematische Dinge nicht ebenso problemlos
versteht wie viele seiner Mitschüler. Wenn dann trotz aller Bemühungen eine 5
unter einer Klassenarbeit steht, womöglich mit dem Zusatz „du musst dich mehr
anstrengen!“, dann ist das wie eine Strafe. Aber eine Strafe für was? Das
betroffene Kind selbst hat ja gar nichts verbrochen und hat nicht Strafe
verdient, sondern Hilfe. Denn es hat ja aus eigener Kraft gar nicht die Möglichkeit,
sich aus seinem Unverständnis herauszuarbeiten, sondern ist angewiesen darauf,
dass andere ihm Hilfestellungen bieten, die es verstehen kann. Diese Hilfe
wiederum findet in der Regel in der Schule nicht statt und je weiter der
Schulstoff fortgeschritten ist, umso weniger bietet er dafür überhaupt eine Möglichkeit.
Die schlechte Note stellt daher keinen pädagogisch sinnvollen Umgang mit den
Lernschwierigkeiten ihres Kindes dar, sie muss ihm als eine große
Ungerechtigkeit erscheinen, mit der schwer fertig zu werden ist.
Hier
ist Ihr Verhalten wichtig: Achten Sie darauf, dass Sie keinen Ärger und keine
Enttäuschung zeigen, wenn Sie Ihre Unterschrift unter eine schlechte
Klassenarbeit setzen. Denn das wäre so, als ob Sie Ihr Kind dafür, dass es in
der Schule abgestraft wurde, zu Hause noch einmal bestrafen. Sie sollten bewusst
gegensteuern und Ihrem Kind erst recht mit Liebe und Verständnis begegnen, wenn
es unglücklich mit einer schlechten Note nach Hause kommt. Es ist durchaus
erlaubt und kann sehr heilsam sein, wenn Sie gemeinsam mit ihrem Kind auf die
Ungerechtigkeiten schimpfen, die vorgekommen sind. Ihr Kind braucht den
seelischen Rückhalt bei Ihnen. Es braucht dann, wenn es in der Schule mit einer
schlechten Note gewissermaßen verurteilt worden ist, die Sicherheit, dass
wenigstens zu Hause jemand auf seiner Seite steht.
Daher
ist es auch wichtig, dass Ihr Kind gelobt wird, wo immer sich ein Anlass dazu
bietet, auch wenn er noch so nichtig erscheint, und dass es in Schutz genommen
wird, wenn andere sich über es lustig machen. Wenn sich Ihr Kind bemüht, wenn
es Einsatzbereitschaft zeigt, dann sollte das gewürdigt werden – unabhängig
davon, ob es von Erfolg gekrönt ist oder eine gute Note zeitigt.
Achten
Sie darauf, dass das Fach Mathematik nicht zum beherrschenden Gesprächsgegenstand
wird, bestehen Sie darauf, dass es noch andere Dinge im Leben gibt, die unter
Umständen viel wichtiger sind. Ihr Kind wird keinen Beruf anstreben, in dem
Mathematik eine große Rolle spielt. Dann ist es aber auch für seinen weiteren
Lebensweg entscheidend, dass sich seine anderen Talente weiterentwickeln können.
Dafür braucht es Zeit, Gelegenheit und im Zweifelsfall Ihre Förderung. Sorgen
Sie dafür, dass möglichst viel von den Dingen die Rede ist, bei denen sich Ihr
Kind auskennt und für die es sich interessiert. Ermutigen und unterstützen Sie
Ihr Kind in seinen nicht-mathematischen Interessen und Fähigkeiten, so gut es
geht. Sie fördern damit seine Entwicklung und könnten so einiges dazu
beitragen, sein beschädigtes Selbstwertgefühl zu stabilisieren.
Und
verschaffen Sie sich möglichst früh Gewissheit darüber, wie es um die
Schwierigkeiten ihres Kindes wirklich bestellt ist.
IV.
Worin sich Rechenschwäche zeigen kann ?
Ist
Ihr Junge im Rechenunterricht wesentlich schlechter als in Deutsch? Ist Ihre
Tochter darin zwar ähnlich gut, hat aber unverhältnismäßig mehr damit zu kämpfen,
dass sie mitkommt?
Dann
beobachten Sie Ihr Kind. Stellen Sie fest, welche Fehler es macht und wo es
nicht mehr weiter weiß. Achten Sie vor allem auf mathematische
Lernschwierigkeiten der Art, wie sie im Folgenden aufgelistet sind. Sie können
ein Hinweis darauf sein, dass eine Dyskalkulie vorliegt:
Kann
Ihr Kind räumliche Beziehungen erfassen?
Verwechselt es rechts/links, oben/unten, hinten/vorn?
Kann
es mit Zeitangaben umgehen?
Verwechselt es Stunden, Minuten, Sekunden?
Hat es nur ungenaue Vorstellungen von Wochen, Monaten, Jahren?
Kann
Ihr Kind mit Geldbeträgen umgehen?
Kann es beispielsweise Wechselgeld nachprüfen?
Überschaut
Ihr Kind kleinere Mengen, ohne abzählen zu müssen?
Verwechselt
es Begriffe wie mehr/weniger, das Doppelte/die Hälfte,
ein Teil/das Mehrfache, aber auch Begriffe wie länger/kürzer,
schwerer/leichter, schneller/langsamer, früher/später?
Verwechselt
es Ziffern (4/5 oder 6/9)?
Schreibt es Ziffern von unten her oder seitenverkehrt
(3 ähnelt einem gerundeten E, 6/9)?
Ist
Ihr Kind in der Lage, die Zahlenreihe von 1 bis 10 auch rückwärts
aufzusagen?
Beherrscht
Ihr Kind Stellenwerte und Zahlenaufbau?
Verwechselt es z.B. 12/21, 13/31?
Schreibt
es die Zahlen "nach Gehör" falsch:
zum Beispiel bei der 65 erst die 5 und dann die 6, also 56?
Hat
Ihr Kind Schwierigkeiten bei Zehner-, Hunderter-, Tausender- usw. -Übergängen?
Bewerkstelligt
es Addition und Subtraktion nur durch Abzählen?
Werden
die Rechenoperationen verwechselt?
Rechnet es z.B. 10 • 10 = 20, 3 + 3 = 9?
Ist
Ihr Kind in der Lage, eine gegebene Sachaufgabe in den richtigen
mathematischen Lösungsweg zu transformieren oder sucht es sich auf
"gut Glück" irgendeine Rechenart aus?
Addiert es beispielsweise, wo subtrahiert werden müsste?
Die
Frage, ob ein Kind grundlegende Defizite auf dem Gebiet des quantitativen
Denkens aufweist, ob also eine Dyskalkulie vorliegt, kann nur durch eine ausführliche
fachliche Untersuchung geklärt werden. Denn zum einen treten nicht alle
Schwierigkeiten immer voll in Erscheinung und zum anderen kommen viele dieser
Fehlleistungen bei jedem Kind, das Rechnen erst noch lernt, mehr oder weniger häufig
vor. Für den Fall, dass bei ihrem Kind zwei oder mehr der oben genannten
Schwierigkeiten auftreten, sollten Sie sich durch einen Test Gewissheit
verschaffen. Für die weitere Förderung Ihres Kindes ist es sehr entscheidend,
ob es nur einen bestimmten Schritt nicht verstanden hat oder ob seine
Schwierigkeiten grundlegender Art sind.
Im
letzteren Fall kann dem Kind ein überflüssiger und sehr zermürbender
Leidensweg erspart werden, wenn die Dyskalkulie frühzeitig erkannt und
therapiert wird. Bei der Früherkennung kommt Ihnen dabei die wichtigste Rolle
zu, vor allem in den unteren Klassen. Der Lehrer kann unmöglich erkennen, ob
hinter den richtig gerechneten Hausaufgaben in Wirklichkeit die große Schwester
steckt, und die kleine Schwester wird aus Scham davon nichts erzählen. Aber Sie
wissen es: Kommt Ihre Tochter von sich aus auch auf richtige Ergebnisse?
Schreibt Ihr Sohn nur das mit Zuversicht nieder, was jemand anders ausgerechnet
hat? "Diktieren" Sie Ihrem Kind die richtigen Lösungen? Es hilft
Ihrem Sprössling nicht weiter, wenn er mit Ihrer Hilfe zu Hause die Lösungen büffelt
und diese dann in der Schule korrekt auswendig hersagen kann. Er kann so
vielleicht seine Dyskalkulie vor Lehrern und Mitschülern eine Zeit lang
verbergen - behoben wird sie dadurch nicht.
Für
den Erfolg der Therapie hängt sehr viel davon ab, dass eine Rechenschwäche möglichst
frühzeitig erkannt wird. Zwei Dinge sind dafür ausschlaggebend: Zum einen können
Versagensängste und Misserfolgsorientierung in so jungen Jahren die gesamte
seelische Entwicklung eines Kindes schwer beeinträchtigen, Zum andern ist in
den ersten Schuljahren der Abstand zum aktuellen Schulstoff noch nicht so groß
und therapeutische Erfolge können sich schneller in Schulerfolgen
niederschlagen. Und Erfolg ist immer noch der wirksamste Motor, um
Lernmotivation und Selbstvertrauen wiederherzustellen.
Aber
auch bei älteren Kindern und Jugendlichen, die sich schon seit einigen Jahren
mit einer verschleppten Dyskalkulie und ihren Folgen herumschlagen, ist noch längst
nicht "alles zu spät". Hier steht zunächst die diagnostische
Erfassung der mathematischen Kompetenz im Vordergrund, Das vorhandene Wissen wie
auch die Lücken und die falschen Sicherheiten, vor allem im mathematischen
Grundlagenbereich, müssen genau bekannt sein, damit man gezielt mit der
Erarbeitung der notwendigen Bereiche beginnen kann.
Die
betroffenen Jugendlichen oder Heranwachsenden leiden in der Regel schon lange
unter Minderwertigkeitsgefühlen und Versagensängsten, die sie so gut wie möglich
zu verbergen suchen. Es ist für sie beruhigend und eine entscheidend positive
Perspektive, wenn sie die Chance bekommen, ihre Defizite in diesem Bereich
abzubauen oder zumindest zu verringern, bevor sie ins Berufsleben gehen.