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Rechenschwäche / Dyskalkulie / Arithmasthenie — was ist das?
Rechenschwäche / Dyskalkulie bleibt oft unerkannt
Kinder
wollen lernen, und je erfolgreicher sie sind, umso eifriger sind sie
dabei. Das ist bei Kindern mit Lernschwierigkeiten nicht anders. Allerdings
treffen solche Kinder im Schulalltag auf besondere Hindernisse, denn der
Lehrplan definiert ohne Rücksicht auf individuelle Schwierigkeiten den
Stoffumfang und die dafür vorgesehene Zeit. Fortkommen und Motivation mancher
Kinder werden dadurch von Beginn an auf eine harte Probe gestellt.
Die
Lehrerin, der Lehrer wird sich am Klassendurchschnitt orientieren müssen. In
der Regel kommen dann lediglich die gängigsten Schwierigkeiten im Unterricht
zur Sprache, damit der Zeitrahmen eingehalten wird und andere Kinder nicht
unterfordert werden. Für Kinder mit besonderen Rechenschwierigkeiten ergibt
sich die belastende Situation, dass ihre individuellen Probleme mit dem Stoff
nur wenig oder gar nicht vorkommen, während gleichzeitig die
Leistungsanforderungen beständig ansteigen. Zugleich bringt es der
systematische Aufbau der Mathematik mit sich, dass Verständnislücken im
Grundlagenbereich sich nicht kompensieren lassen. So wird der Abstand zwischen
dem individuellen Wissensstand des betroffenen Kindes und dem fortschreitenden
Stoff mit der Zeit immer größer.
Im
Mathematikunterricht muss das Kind dann fast täglich Blamage und Versagen
erleben. Wenn nun auch noch Vorwürfe oder Hänseleien hinzu kommen, können das
Selbstwertgefühl und die Lernmotivation stark beeinträchtigt werden. Oft führt
dies zum Verlust des Interesses auch an anderen Fächern und generalisiert sich
zur Abneigung gegen „das Lernen“, zu allgemeiner Schulangst und zu
Verhaltensauffälligkeiten. Die Lernschwäche in einem Teilbereich kann auf
diese Weise bereits nach wenigen Jahren so von psychisch-emotionalen Aspekten überlagert
sein, dass schließlich der Eindruck persönlichkeitsbedingten, allgemeinen
Schulversagens entsteht.
Rechenschwäche / Dyskalkulie / Arithmasthenie — was ist das?
In
der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen" der Weltgesundheitsorganisation
ist Dyskalkulie definiert als eine „umschriebene Beeinträchtigung von
Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung
oder eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die
Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten..."
(F81.2 unter „Entwicklungsstörungen").
Gemeinsam ist allen Betroffenen, dass ihr Verständnis für Mengen und Größen, für die Beziehungen von Quantitäten und die Operationen mit ihnen mangelhaft entwickelt ist. Dabei kann die Dyskalkulie, je nach Alter, aber auch innerhalb einer Altersstufe, in sehr verschiedenen individuellen Ausprägungen vorliegen. Die folgende Aufzählung kann also keine Vollständigkeit beanspruchen, auch müssen im Einzelfall, vor allem bei älteren Kindern, längst nicht alle Bereiche betroffen sein.
Häufige
Charakteristika einer Dyskalkulie:
Pränumerische
Voraussetzungen: Schwierigkeiten in Wahrnehmung und räumlicher
Durchgliederung, vor allem mit rechts/links; spiegelverkehrte Schreibweise; Länge,
Breite, Höhe nicht unterscheidbar; Richtung oder Reihenfolge kann nicht
eingehalten werden; Probleme mit Lückenaufgaben und inversen Fragestellungen.
Zahlbegriff:
Rein mechanisches Zählen ohne Mächtigkeitsbegriff; Verwechslung von
Anzahl mit räumlicher Ausdehnung; Verwechslung von Zahl und Ziffer, von
Ordinal- und Kardinalzahl; Unklarheit bezüglich des Prinzips der Einheit beim
Messen; Unverständnis von Differenzen („um wie viel mehr/weniger“).
Zahlaufbau:
Zahlendreher gemäß akustischer Reihenfolge; Homogenität des Zahlbegriffs
fehlt; Zusammenhang von Ziffern- und Stellenwert, Bedeutung der Null unklar;
kaum Größenvorstellungen bei Zahlen über 20 bzw. 100 und bei Dezimalbrüchen.
Rechenoperationen:
Ihr innerer Zusammenhang wird nicht verstanden, daher vielfältige
Verwechslungen; Umkehrung von Zahlverknüpfungen; Subtraktion und Division oft völlig
unbegriffen, bei Jüngeren auch Teilen im vormathematischen Sinn.
Sachaufgaben:
Sachaufgaben werden in ihrem mathematischen Gehalt nicht verstanden;
Verwechslung von „Geld ausgeben" und „Geld übrig haben", auch im
Alltag; Einheiten (€, Stückzahl, m) werden verwechselt; es werden „auf gut
Glück" die vorkommenden Zahlen addiert; Auswahl der notwendigen
Rechenoperation assoziativ oder durch Raten; Frage und Antwortsatz passen nicht
zusammen.
Eine Dyskalkulie bleibt oft unerkannt
Kinder
mit solchen Wissenslücken versuchen gleichwohl, so gut zu rechnen wie ihre
Altersgenossen. Zum einen wird viel Unbegriffenes auswendig gelernt. Zum andern
wird abgezählt, oft mit verstecktem Fingerrechnen — mit richtigem oder
falschem Ergebnis, je nach Zähltechnik und Sicherheit in der Zählrichtung. Zum
Dritten werden nicht durchschaute Zusammenhänge durch falsch verstandene, brav
befolgte Merkregeln handhabbar gemacht.
Beispiel: 44 – 18 = 34.
Denn: „4 – 1 = 3; 4 – 8 geht nicht, da
rechne ich dann 8 – 4 = 4". Ergebnis: 34.
Oft
werden die Ergebnisse mit enormem Arbeitsaufwand Einer für Einer ausgezählt.
Und diese Bemühungen können durchaus auch richtige Ergebnisse zum Resultat
haben. Werden die richtigen Lösungen nun als Anzeichen für die Beherrschung
dieses Stoffabschnitts (miss-)interpretiert, erscheint auf der anderen Seite die
Häufung von Fehlern völlig unerklärlich. Immer noch viel zu oft heißt dann
die „Diagnose": „Das Kind hat sich nicht genug Mühe gegeben.“
Bestärkt
wird diese Fehldiagnose dadurch, dass viele rechenschwache Kinder mit Einführung
des schriftlichen Rechnens zunächst bessere Leistungen zeigen, die Probleme
daher als überwunden gelten. Das liegt gewöhnlich daran, dass in der
schriftlichen Addition und Subtraktion jede Stelle so behandelt wird, als wären
es Einer, sodass das Kind unter Beachtung gewisser „Behalte“-Regeln manche
dieser Aufgaben lösen kann, ohne zu wissen, was es da tut. Für das Kind mag
dies ein wichtiges Erfolgserlebnis sein, ein Zugewinn an mathematischer
Kompetenz ist es nicht.
wird
andererseits von Eltern (und auch Lehrern) oft falsch eingeschätzt. So
unverzichtbar Übung ist, um Verstandenes zu automatisieren, damit schneller,
sicherer und mit geringerem gedanklichem Aufwand gerechnet werden kann — als
Ersatz für Verständnis ist sie ungeeignet. Ein Kind mag „den 6er"
perfekt auswendig wissen und doch die Aufgabe 24 + 6 nach langem Zögern
mit „29" beantworten. Das Büffeln von Zahlenreihen kann das Verständnis
der Addition und ihres Zusammenhangs mit der Multiplikation nicht ersetzen; erst
ein Kind, das diesen Zusammenhang verstanden hat, wird von der Automatisierung
des Einmaleins angemessen profitieren.
Viele
Aufgaben sind gar keine Übungsfragen, sondern Wissensfragen. Für jemanden, der
den Zahlaufbau im Stellenwertsystem verstanden hat, ist z.B. die Aufgabe „12 x
10" leicht zu lösen. Für ein rechenschwaches Kind kann sie unter Umständen
„zu schwer" sein. Begründung: „Ich kann den 12er nicht".
Der Versuch des Kindes, all das auswendig zu lernen, was
es nicht versteht, erfordert einen enormen Aufwand an Konzentration und Merkfähigkeit.
Mit der Zeit wird es dann immer schwerer und schließlich unmöglich, fehlendes
Verständnis durch Gedächtnisleistungen wettzumachen. „Üben“ hilft hier
nicht.
Wer keine Möglichkeit erhält, seine Defizite
im mathematischen Verständnis aufzuarbeiten, für den kann die Forderung nach
mehr Einsatz nicht nur unnütz, sondern sogar sehr schädlich sein. Denn ein
Kind, das bereits viel freie Zeit der Mathematik opfert, kann als Konsequenz
daraus folgern, dass es sinnlos ist, sich weiter abzumühen, weil es das ja
„sowieso nicht kapiert“. Damit aus dieser Resignation nicht ein dauerhafter
Verlust der Lernmotivation wird, ist es wichtig, eine Dyskalkulie rechtzeitig zu
erkennen und möglichst früh mit gezielter Förderung zu beginnen.
Da
das Vorliegen einer Dyskalkulie sich nicht immer in durchgehend schlechten Noten
äußert, kann die subjektive Stellung des Kindes zu dem Fach entscheidende
Hinweise liefern. Daher ist es wichtig, dem Kind zuzuhören, solange es sich überhaupt
noch traut, davon zu reden. Es ist ein Alarmsignal,
wenn das Kind sich selbst der Dummheit und Unfähigkeit bezichtigt und
resigniert;
wenn in seiner Leistung nicht nachvollziehbare Unregelmäßigkeiten
auftreten;
wenn ein Kind über dem Fach Mathematik verzweifelt, auch wenn dies in
keinem erkennbaren Zusammenhang zu seinen eher zufrieden stellenden
Leistungen steht;
wenn (scheinbar) einfache Erklärungen beständig auf Unverständnis stoßen
und bei der Lehrerin bzw. den Eltern das Gefühl aufkommt, immer wieder das
Gleiche zu sagen;
wenn absurde Ergebnisse das Kind nicht stutzig machen und es sich unfähig
oder nicht willens zeigt, die eigenen Ergebnisse zu überprüfen;
wenn ein Kind behauptet, je nach dem, wie man es anstelle, könnten bei
derselben Aufgabe die verschiedensten Ergebnisse herauskommen und richtig
sein.
Dies alles sind Alarmzeichen, die ernst genommen werden müssen. Sie können ein Hinweis darauf sein, dass grundlegende Vorstellungen von den Notwendigkeiten quantitativer Verhältnisse nicht entwickelt sind, dass also das Scheitern am aktuellen Schulstoff Gründe hat, die weit zurückliegen. Im Zweifel sollte man sich Gewissheit verschaffen, damit gut gemeinte Hilfsmaßnahmen wie vermehrtes Üben, beständiges Wiederholen etc. nicht die Symptomatik womöglich noch verschlimmern.
Eine individuelle Fehleranalyse
ist
nötig, um festzustellen, ob bei einem Kind eine Dyskalkulie vorliegt. Denn
manch richtiges Ergebnis ist „ohne Verstand" zustande gekommen, manch
falsches Ergebnis ist das Resultat eines „intelligenten" Fehlers. Die üblichen
Rechentests, die lediglich falsche oder richtige Ergebnisse festhalten, sind
hier ungeeignet, weil sie keinen hinreichenden Aufschluss über die
mathematische Kompetenz geben und nicht unterscheidbar machen, was das Kind weiß
und welches Wissen ihm fehlt.
Eine
individuelle Fehleranalyse erfordert das informelle diagnostische Gespräch, in
dem nach dem Prinzip des „lauten Denkens" Aufgaben und ihre verschiedenen
Lösungswege sowie geeignete Methoden, das Ergebnis zu überprüfen,
durchgesprochen werden. Die Abwesenheit jeglichen Zeit- und Erwartungsdrucks ist
hierbei unerlässliche Voraussetzung.
Die
zweite wesentliche Bedingung ist, dass das Kind einen für sein Niveau
kompetenten Gesprächspartner vorfindet. Sonst wird man auf die Frage: „Und
wie hast du das gerechnet?“ vom Kind häufig nicht mehr als die Antwort: „Im
Kopf!“ erhalten. Denn die Möglichkeiten der Verbalisierung sind speziell bei
Jüngeren noch sehr beschränkt, die Angst vor Blamage ist groß und der Gesprächsgegenstand
ist für das Kind in der Regel neu: Seine rechnerischen Überlegungen haben
bisher kaum interessiert. Je umfassender die Kenntnis der diversen Techniken
nicht-verständigen Rechnens, ihrer Vorteile und besonderen Klippen, der
verschiedenen Methoden des Fingerrechnens etc. ist, desto mehr wird in diesem
Gespräch zu erfahren sein, wo genau die Schwierigkeiten des Kindes liegen.
Dabei ist das Vertrauensverhältnis ebenso wichtig wie die Fähigkeit des
Diagnostikers, die kindlichen Äußerungen richtig zu verstehen.
Erst
nach Auswertung einer solchen qualitativen Fehlerdiagnose ist es möglich,
fundierte Aussagen darüber zu treffen, wie dem Kind geholfen werden kann, ob es
möglich ist, die Wissenslücken mit einer qualifizierten Nachhilfe zu schließen,
oder ob zunächst der Grundlagenbereich nachgearbeitet werden muss, bevor
weitere Förderung überhaupt greifen kann.